Die Bürger wollen ihren Staat zurückhaben!
Am heutigen Sonntag sollte auf einem Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs ein neues Maßnahmenpaket zur Euro-Rettung oder zur Beilegung der Griechenland-Krise oder wie auch immer verhandelt und verabschiedet werden. Das ganze wird nun bloß ein Vorgipfel sein, der am Mittwoch dann formvollendet abgeschlossen werden muss. Denn Frau Merkel darf nicht zustimmen. Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat sein OK noch nicht gegeben, deshalb hat die Bundesregierung kein Mandat.
Der Luxemburger Jean-Claude Juncker sprach frech von einer „desaströsen Außenwirkung“. Wie kommt er dazu? Weil die deutschen Abgeordneten verstehen wollen, was sie da beschließen sollen, statt in blindem Vertrauen in die überlegene Weisheit der Experten in Ministerien und EU-Kommission wie bei einem Volks-Kongress die Vorlagen der Exekutive gleichsam jubilierend und in hingebungsvoller Unterwerfung unter die alternativlosen Sachzwänge zu beschließen? Weil Parlamentarier sich das Recht erkämpft haben – mit viel Unterstützung des Verfassungsgerichts –, dass sie gefragt werden müssen, bevor sie dem möglichen Ausverkauf des Landes und der Schuldenübernahme durch die Wähler, die sie vertreten, ihren Segen erteilen?
Das offenbart ein doppelt seltsames Demokratie-Verständnis eines renommierten Europa-Politikers: Zum einen ist es sehr ungewöhnlich, sich in solch ungebührlicher Weise zu den parlamentarischen Gepflogenheiten in einem anderen EU-Staat zu äußern. Zum anderen belegt es eine zunehmende Ferne von der politischen Basis und den Nöten der Nicht-Experten.
Aber es regt sich zunehmend Widerstand gegen die Geheimniskrämerei von Expertenkränzchen, die Intransparenz von Prozessen und die wahlweise überlange Dauer von Verfahren oder die überstürzte Wahllosigkeit von Maßnahmen. Aus der Reaktion überall im Lande wird deutlich: Die Bürger sind nicht mehr bereit, sich von Technokraten, Bürokraten und anderen Experten für dumm verkaufen zu lassen. Die Menschen wollen ihren Staat zurückhaben!
Stuttgart 21 als Protest gegen ein Mammut-Projekt; Occupy Frankfurt, die sich abzeichnende Rebellion gegen die Banken; Enthüllungen über verfassungswidrige, gesetzesbrecherische Überwachungsmethoden der Sicherheitsbehörden und das neue Selbstbewusstsein des Deutschen Bundestages – sind das die Vorboten eines neuen Politik-Stils?
Werden vielleicht die Mitglieder des Bundestages von der leisen Unruhe geplagt, dass es nicht mehr ihr Parlament ist, dass sie degradiert werden zum Stimmvieh der Fraktionsführungen, die ihrerseits an den Marionettenschnüren der Puppenspieler der Expertokratie zappeln? So wie die Bürger die Beklemmung fühlen, dass der Staat den Technokraten in Unternehmen, Organisationen und Behörden gehört und nicht mehr ihnen?
Insbesondere die jüngere Generation hat offensichtlich ein anderes Verständnis von Demokratie und Mitmachen. Äußert sich hier ein neuer, ein modernen Typ Mensch, für den Beteiligung wirklich Selbstbeteiligung und nicht Delegation ist?
Solche modern agierenden Menschen sind es gewohnt, dass sie „on the spot“, sofort entscheiden können. Im Beruf, beim Einkaufen, im alltäglichen Leben lautet ihr Prinzip: Vertagen gilt nicht! Und wenn sie sich für politische Fragen interessieren, dann wollen sie nicht hören, dass sie jetzt und heute – wo eine Angelegenheit sie konkret betrifft und interessiert – nicht mehr entscheiden können, weil vor vielen Jahren von einem Gremium eine formal und formalistisch korrekte Entscheidung getroffen wurde. Das passt nicht zum neuen Lebensgefühl der „Jetzt-Sofort-Gesellschaft“ des Internetzeitalters: Ich habe jetzt ein Frage – ich will jetzt eine Antwort. Ich will in Echtzeit, nämlich jetzt, mitmachen! Ich will mir nicht anhören müssen, dass ich meine Chance verpasst hätte!
Die in der Offline-Welt Aufgewachsenen können das gar nicht recht nachvollziehen, jene Menschen, für die es selbstverständliche Lebenspraxis war, dass irgendwann die Gelegenheit verpasst war und nicht wiederkomme würde, jene Zeitgenossen, die dem Wort Gorbatschows, wonach das Leben jene bestrafe, die zu spät kommen, aus vollem Herzen lebenslanger Erfahrung zustimmen konnten.
Wenn die „modernen“ Menschen zur Wahl gehen, dann wollen sie mit ihrer Stimme ein Zeichen setzen, sie wollen Aufmerksamkeit erringen, aufrütteln, die Politiker zum Umdenken zwingen. Die Altvorderen beabsichtigen dagegen mit ihrer Wahlentscheidung Macht auszuüben, sie werten die Übertragung ihrer Stimme auf den Abgeordneten als eine Transfusion. Und wählen jene aus, die ihren lebenslangen Grundüberzeugungen am nächsten kommen. Aber auch diese Nibelungen-Treu wankt.
Überall wird gefragt und kritisiert, im neuen Stil der neuen Zeit. Das ist eine Gefahr für die Bürokraten und Technokraten, die fein ausgetüftelte, perfekt funktionierende, ineinander laufende Räderwerke zu politisch-administrativen Systemen geformt haben. Es bedroht ihre herausgehobene, wenn auch verborgene Stellung als Apparatschiks, die die wahren Herren des Apparates sind – ganz gleich ob im Finanz- oder im Innenministerium oder an welcher „Stelle“ auch immer. Nur sie verstehen das System und seine Bestandteile, die Ordnung, die es zusammenhält, und die Funktionen, die es erfüllen muss.
Moderne Demokratie verläuft dagegen an einer ganz anderen Schnittstelle: Beim Mitmachen! Beim spontanen sich organisieren, beim einmal hier mitmachen, ein andermal dort mittun, beim Engagement des zeitlich Befristeten und Emotionalen. Dagegen haben die Techno-Bürokraten ihr ganzes dröges Leben dem Dienst am System und seiner Vervollkommnung gewidmet, und sie erwarten dafür, dass das System ihnen irgendwann die entsprechende Rendite abwirft. Jahrhundertelang hat das funktioniert. Vielleicht ändert sich ja jetzt etwas? Auch das wäre mal was Neues …
Einen technokratiefreien Sonntag wünscht Ihnen / Euch
Michael Bross aus Sindlingen.
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